Boris Goudenow - Presseschau

Ein Freigeist war Johann Sebastian Bach freilich nicht

Mit zwei großen, eigens für Staatsakte komponierten Kantaten und zwei Grußworten wurde im Michel das 79. Bachfest eröffnet

Von Ilja Stephan

"O Michel, dir, den kein Himmel fassen mag, dir weihen wir die schlechte Hütte." So sang man es mit hanseatischem Unterstatement 1786 zur Vollendung von Hamburgs barockem Wahrzeichen.

Mit zwei großen, eigens für Staatsakte komponierten Kantaten wurde nun am Freitag in St. Michaelis das 79. Bachfest eröffnet mit der sogenannten Trauerode BWV 198, die Johann Sebastian Bach 1727 zur Trauerfeier der sächsischen Kurfürstin Christiane Eberhardine geschrieben hatte. Es folgten zwei Grußworte und die vor 218 Jahren daselbst zuletzt aufgeführte "Musik am Dankfeste des fertigen Michaelis-Thurms" von Carl Philipp Emanuel Bach.

In seinem Grußwort wies der Erste Bürgermeister Ole von Beust darauf hin, daß Hamburg nach 1931 und 1965 nun zum dritten Mal das renommierte, von der Neuen Leipziger Bachgesellschaft im Wechsel an verschiedene Städte vergebene Festival ausrichte. Statistisch gesehen könne man also erst zirka 2040 mit dem nächsten Bachfest an Alster und Elbe rechnen - Grund genug, das seltene Ereignis entsprechend wertzuschätzen. Im Anschluß rechnete Prof. Dr. Martin Petzoldt, Vorsitzender der Neuen Leipziger Bach-Gesellschaft, dann mit allen Bach-Deutern ab, die den Thomaskantor für aufklärerische Freigeisterei oder gar den Atheismus reklamieren wollten. - Falls jemand der Anwesenden im nicht ganz gefüllten Michel je diese Meinung vertreten haben sollte, wird er es ganz bestimmt nie, nie wieder tun.

Die musikalische Entdeckung des Abends war sicher die Kantate, die der "Hamburger Bach" Carl Philipp Emanuel zur Einweihung des wiederaufgebauten Michel-Turmes komponiert hat. Eine groß besetzte Festmusik mit reichlich Pauken und Trompeten, die vom Chor St. Michaelis, dem Solistenquartett und der Johann-Christian-Bach-Akademie unter der Leitung von Christoph Schoener stilsicher und souverän musiziert wurde. Von ganz besonderem Klangreiz war dabei der eingeschobene doppelchörige Chor "Heilig" - selbst die trübe Michel-Akustik, bei der alles stets klingt, als käme es durch einen dicken Schleier, konnte der volltönenden Harmonie der verteilten Ensembles ihren Charme nicht rauben.

Nach dieser musikalischen Eröffnung folgte die gesellschaftliche mit einem Senatsempfang für geladene Gäste im Festsaal des Rathauses. Statt der feierlichen Töne im Michel sorgte nun das Saxophon Quartett "Classic 4 Sax" für musikalische Abwechslung. Der Lorbeer für eine selbstironische, sogar hanseatische Staatsakte aufheiternde Redekunst bei den auch hier unvermeidlichen Grußworten ging unstreitig an den regen künstlerischen Leiter des Festivals, Christoph Schoener. Ob dies die im Vorfeld leise angeklungen Kritik bewirkt hat oder nicht, ausgesprochen glücklich war jedenfalls die Entscheidung der Organisatoren, das zu diesem Festakt geplante Konzert zu verlegen und öffentlich zugänglich zu machen.

Rudolf Kelber und das Cythara-Ensemble spielten also statt im Rathaus in St. Petri zwei Bachsche Konzerte für drei Cembali und eine vom Bachfest in Auftrag gegebene Uraufführung von Erhan Sanri.

Zu später Stunde fand sich so ein kleiner Kreis von Bachfans - unter ihnen auch GMD Ingo Metzmacher - in St. Petri ein, wo man im Seitenschiff in unmittelbarer Nähe zum feinen Klang des solistisch besetzen Ensembles saß, was zu dieser Musik unendlich viel besser paßt als jeder große Saal. Daß Erhan Sanri ein zweiter Bach sein würde, hätte sicher niemand von ihm erwartet - außer vielleicht er selber. Und so übertrug er in seiner "Fata Morgana" das barocke Cembalo-Geperle schlicht in dissonanzenreiche Regionen. Eigenes oder gar substantiell Neues war da kaum zu hören. Nicht nur während des noch bis zum 7. November dauernden Bachfests wird in Hamburg der alte Johann Sebastian also erst mal das Maß der Dinge bleiben.

DIE WELT, 1. November 2004